Ich lese gerade nochmals die Biographie von Vivienne Westwood, die sie zusammen mit Ian Kelly verfasst hat und die 2014 in deutscher Sprache im Eichborn Verlag erschienen ist.
Wie du vielleicht weißt, habe ich meine ganz persönlichen und eigenen Erfahrungen mit Vivienne gemacht, als ich von 1998 bis 2002 bei ihr in London gearbeitet habe. Aber darum soll es mir in diesem Beitrag nicht gehen, sondern um die Sicht von Vivienne auf das, was Mode ist und bewirkt, wie sie Spiegel der eigenen Persönlichkeit, aber auch der Gesellschaft und deren Wandel ist. Die Lektüre der Biographie und das Nachdenken darüber haben mir sehr stark wieder in Erinnerung gerufen, was mich seit meiner Jugend an der Mode und dem Nähen so fasziniert hat, wie ich auf einigen Umwegen zu meinem Traumberuf als Schnittmacherin kam und warum ich, trotz anderer vielfältiger Interessen, immer noch für diese Tätigkeit brenne und darin aufgehe.
Westwood will mit ihren Entwürfen und Kleidungsstücken Geschichten erzählen. Sie ist auf der Suche nach Referenzen; „die Ideen aus der Vergangenheit und die Ziele für die Zukunft.“ Und diese Geschichten sollen die Quintessenz von dem sein, was da gerade entsteht. Ja, es geht in gewissem Maße auch um Perfektion und wie man dorthin kommt. Und so verkündet Vivienne die Botschaft: „Mach das Beste aus Dir. Und folge Deinem Gewissen.“ Und auch wenn sich Vivienne der Perspektive und Ausdrucksform des Designs bedient, ich jedoch der Schnittkonstruktion, verfolgen wir beide dasselbe Ziel: ein zeitloses Kleidungsstück, das Gewicht sowie einen Bezug hat und das, was mir besonders wichtig ist, eine gute Passform hat. Kleidung muss (zu) der Trägerin oder dem Träger passen.
Das merke ich auch immer wieder in meinen Schnittkursen oder Coaching Terminen, in denen es neben dem Design in erster Linie um den Sitz von Blusen, Kleidern, Röcken oder Hosen geht. Was das betrifft, habe ich meine eigene Botschaft zu vermitteln: Es gibt keine schlechten Figuren, sondern es gibt nur schlechte Schnitte. Dahin zu kommen bedarf es viel Erfahrung, die ich in meinen Berufsjahren sammeln konnte und gesammelt habe, aber das auch nur, weil ich hartnäckig geblieben bin, weil ich, um wieder den Bogen zu Vivienne Westwood zu bekommen, immer versucht habe und auch weiterhin versuche, das Beste aus mir, was die Schnittkonstruktion betrifft, zu machen. Und dieses Wissen und diese Erfahrungen möchte ich mit dir gerne teilen, um mich auch selber mit dir dabei weiterzuentwickeln.
Und da sind in dieser Biographie noch die Statements von Vivienne zu bestimmten Kleidungsstücken, die mir außerordentlich gefallen. Am meisten musste ich bei „Für mich war der Bleistiftrock das womöglich heißeste Kleidungsstück, das jemals entworfen wurde.“ schmunzeln, da ich diese Aussage nicht nur vorbehaltlos teile, sondern das auch in meinen Schnittkurs erlebbar gemacht habe.
Dieser, in den späten 40er Jahren seine größte Aufmerksamkeit erregende Rock, hat bis heute nichts von seinem zeitlosen Charme, seiner potentiellen Erotik und seiner Eleganz eingebüßt. Es kommt nur darauf an, welches Statement du über dich damit abgeben willst und wie du ihn für dich dementsprechend entwickelst (Stoffe, Farben, Verarbeitung). Vivienne hat sich solche Röcke in den 50ern selbst genäht, als sie noch ein Teenager war und mit dem Tragen fühlte sie sich „praktisch über Nacht als Frau.“ Die Kraft der Visualisierung der Weiblichkeit hat diese Rockform nie verloren. Später spricht Vivienne sogar in ihrer Biographie noch vom „elektrisierenden Kitzel des Bleistiftrocks“.
An dieser Stelle möchte ich bewusst abschließen in der Hoffnung, dich neugierig auf die Biographie von Vivienne Westwood und deinen ersten Bleistiftrockschnitt gemacht zu haben.
Sei kreativ und bleib kreativ!
Deine Evelyn
Nachtrag: Gestern erschien die Nachricht von Viviennes Tod. Unfassbar und traurig, auch wenn ich wusste, dass auch sie eines Tages würde gehen müssen. Nun bin ich dankbar, dass ich von ihr lernen durfte.
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